Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Not- und Hungerjahre in Ostpreußen nach 1815 und ein Vulkanausbruch in Indonesien

Aus verschiedenen Quellen erfahre ich von Notjahren nach 1815: in der Landwirtschaft gibt es Missernten, das Wetter ist ungewöhnlich schlecht, zuviel Kälte und Regen, ungewöhnlich spät einsetzende Frühjahrs- und Tauwetterzeiten, die eine rechtzeitige Aussaat verzögern, zu frühe Wintereinbrüche, die eine Einbringung der bescheidenen Ernte oft verhindern. Die Verwaltungen beklagen Steuerrückstände und eine steigende Zahl von 'Subhastationen' bei Gütern und Höfen, also Zwangsversteigerungen. Schauen wir direkt in einen zeitgenössischen Bericht: 

> Der Bezirk des Amts Grünhoff liegt zwischen den Aemtern Schaacken, Caporn, Fischhausen, der Ostsee und grenzt an das Kurische Haf.

     Der jetzige Nahrungs- und Wirthschafts-Zustand der gedachten Amts-Einsaßen ist schlecht und sinkt mit jedem Jahre mehr.

     Der Grund dürfte in seit mehreren Jahren stattgefundenen Miswachs-Erndten und hauptsächlich in der allgemeinen Senkung des Handels-Verkehrs, wodurch die Geldmittel immer weniger werden, zu finden seyn.

     Außer der Fischerey-Nutzung in der Ostsee, welche von den Dörfern Crantzkuhren, Neukuhren und einigen einzelnen Eigenthümern in anderen Dörfern betrieben wird, die aber auch keinen ergiebigen Gewinn liefert, ist das Haupt-Gewerbe der Einsaaßen reiner Akkerbau, und da dieser, wie erwehnt, seit mehreren Jahren schlecht ausgefallen ist, und der Handels-Verkehr immer mehr sinkt, so muß die Dürftigkeit der Einsaaßen mit jedem Jahre fühlbarer werden; selbige sind jetzt schon in der traurigen Lage, ihre bedeutende laufende Abgaben nicht entrichten zu können, versinken mit jedem Jahre tiefer in Schulden und ihre Subsistence wird um so schwankender, als die Erwerbs-Quellen erschöpft sind und sie keine Aussicht haben, jemals wieder empor zu kommen.<
Aus: GStAPK, XX. HA, PT 10 Grünhoff (1823),  Praestationstabelle des Amtes Grünhoff 

Aus der Feder eines nüchternen Verwaltungsbeamten ist dieser Bericht sicherlich nicht als übertrieben zu werten. Im Gegenteil: das klingt alarmierend und dramatisch und steht in starkem Kontrast zu früheren Jahrgängen, wo in den Praestationstabellen überwiegend über gute Erträge und ordentliche Lebensbedingungen berichtet wird. Vor allem im mittleren bis östlichen Samland (Kirchspiele Powunden, Laptau, Rudau, Schaaken, Caymen) ist der Boden recht gut und liefert sehr zufriedenstellende Erträge. Nur gelegentlich wird von Seuchen berichtet, die die Viehbestände dezimieren und es in der Folge auf einigen Höfen an Pferden, Kühen oder Schafe fehlt, was aber nach einigen Jahren wieder ausgeglichen ist. Wenn zu wenig Getreide geerntet wird, wenn nicht genügend Heu für den Winter eingebracht werden kann, dann hungern Menschen und Vieh. Wenn man im Frühjahr das für die Aussaat vorgesehene Getreide für das eigene Überleben im Winter verbraucht hat, steht es sehr schlecht und man muss auf Kredit teuer dazukaufen.

In anderen Gegenden Ostpreußens wird gar von Hungersnöten in den Jahren um 1816 berichtet. 

Wenn man diese Berichte in Bezug setzt zu ähnlichen  Nachrichten aus anderen Regionen und Weltgegenden, gelangt man zu einem verblüffenden und erschreckenden größeren Bild:
In Mitteleuropa kam es zu schweren Unwettern. Zahlreiche Flüsse (unter anderem der Rhein) traten über die Ufer. In der Schweiz schneite es im Juli bis in tiefe Lagen. Durch die geringere Schneeschmelze im Vorjahr und die angesammelten zusätzlichen Schneefälle zum Beispiel in den Alpen führte die Schneeschmelze örtlich zu katastrophalen Überschwemmungen.
Der Getreidepreis erreichte im Folgejahr (1817) das Anderthalbfache des Niveaus von 1815. Am stärksten betroffen war das Gebiet unmittelbar nördlich der Alpen: Elsass, Deutschschweiz, Baden, Württemberg, Bayern und das österreichische Vorarlberg. Hier erreichte der Getreidepreis im Juni 1817 das Zweieinhalb- bis Dreifache des Niveaus von 1815. An einzelnen abgelegenen Orten wurde auch das Vierfache erreicht.
In Osteuropa (geprägt vom Kontinentalklima) und Skandinavien waren dagegen kaum Auswirkungen feststellbar. So stieg in Polen der Getreidepreis von 1815 bis 1817 wegen der verstärkten Exportnachfrage um lediglich ein Viertel.

Wissenschaftler machen dafür den Ausbruch des Vulkans Tambora im April 1815 verantwortlich. Der Vulkan Tambora liegt auf der indonesischen Insel Sumbawa. "Der Vulkanausbruch förderte 160 Kubikkilometer Tephra und hinterließ eine 7 Kilometer große Caldera, als der Gipfel des Vulkans nach der Eruption einstürzte. An den unmittelbaren Folgen des Ausbruches starben ca. 12.000 Menschen. An den Spätfolgen der Eruption starben mindestens 71.000 Menschen. Sie wurden Opfer des vulkanischen Winters, der 1816 weite Teile von Nordamerika und Europa im Griff hatte und durch den Ausbruch ausgelöst wurde. Asche und Schwefelsäure-Aerosole verteilten sich global und ließen die globalen Durchschnittstemperaturen im Folgejahr der Eruption um 3 °C sinken. Chaotische Wetterverhältnisse, Missernten und dadurch bedingte Hungersnöte waren die Folgen. Das Jahr 1816 ging als 'Das Jahr ohne Sommer' in die Analen der Geschichtsbücher ein."

Obwohl Ostpreußen aufgrund seiner Lage am Rande der osteuropäischen Kontinentalklimazone noch am wenigsten betroffen schien, waren auch dort die Auswirkungen noch deutlich spürbar wie der oben zitierte Bericht belegt.

Bemerkenswert ist, dass es noch jahrzehnte nach dem Vulkanausbruch zu merklichen Veränderungen im Tageslicht kam. Besonders ausgeprägt war dies abends und morgens, da die Sonnenstrahlen dann auf ihrem langen Weg durch die Atmosphäre auf erheblich mehr Partikel stießen, dadurch gestreut wurden und überwiegend die langwelligen Anteile des Lichtspektrums beim Betrachter ankamen. Die biedermeierlichen Sonnenuntergänge in Europa waren von nie dagewesener Pracht – in allen Schattierungen von Rot, Orange und Violett, gelegentlich auch in Blau- und Grüntönen. Die grandiosen Abendstimmungen und die intensiven Erdfarben, Ocker und Gelbtöne von William Turner, die außerhalb von Landschaften mit entsprechender natürlicher Farbgebung (etwa der Toskana und der Camargue) fast unwirklich erschienen, wurden davon sichtlich beeinflusst.

 

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